Stadttheater Giessen
    Täter und Opfer

    Täter und Opfer


    Wie hoch ist der Preis eines Menschenlebens? In Friedrich Dürrenmatts rabenschwarzer Komödie „Der Besuch der alten Dame“ kostet es „nur“ eine Milliarde. Dafür werden die Bewohner des bankrotten (Schweizer?) Städtchens mit dem anrüchigen Namen Güllen kollektiv zu Mördern an ihrem Mitbürger Afred Ill. Mit dem hatte die alte Dame Claire Zachanassian nämlich seit Jahren eine Rechnung offen: seit er sie als Jugendliche geschwängert, sich dann aber mies aus der Affäre gezogen hat. Durch sieben Ehen steinreich geworden, will Claire sich nun späte Gerechtigkeit  mit Geld erkaufen. Dürrenmatts Erfolgsstück von 1965 gehört mit seiner bitterbösen Gesellschafts- und Kapitalismuskritik längst zu den modernen Klassikern des Theaters. Weniger bekannt ist dagegen, dass der Schweizer Autor zusammen mit dem Komponisten Gottfried von Einem, auch eine Opernfassung des Stoffes erstellt hat. Das Stadttheater Gießen wagte sich jetzt unter der Regie seiner Intendantin Cathérine Miville an eine Wiederaufführung, und allein schon das überaus originelle und erstaunlich bühnenwirksame Libretto des erklärten Opernverächters Dürrenmatt lohnte die Ausgrabung. Über die Musik von Einems dagegen scheint die Zeit seit der Wiener Uraufführung 1971 ein wenig hinweggegangen zu sein. Sie wirkt in ihrer handwerklichen Kunstfertigkeit heute vor allem eklektizistisch und überraschend retrospektiv – was freilich durchaus einen eigenen Reiz besitzt. Den Sängern des äußerst engagierten Gießener Ensembles bieten sich gleichwohl dankbare Aufgaben. Namentlich Edward Gauntt als von Reue zerknirschtes Täter-Oper Ill bleibt in Erinnerung. Auch Caroline Whisnant nutzte ihre Bühnenerfahrung, etwa als Brünnhilde im Mannheimer „Ring“, für ein differenziertes Porträt der gleichermaßen verachtens- wie bemitleidenswerten Titelfigur. Cathérine Mivilles präzise Regie überhöht das vermeintlich absehbare Geschehen immer wieder zeichenhaft, indem sie Claire und die auf baldigen Reichtum spekulierenden Güllener gleich mehrfach – und zunehmend fragwürdig – Gericht halten lässt über Ill. Durch dessen bewussten Opfergang bekommen Worte wie Schuld, Sühne und Reue hier unversehens einen dissonanten Beiklang. Wild, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.05. 2011